Lernumgebung – Eine Idee entsteht Teil 2: Erfahrungsbericht „Digitaler Fernunterricht“

Lesezeit: 10 Minuten

Ein Beitrag von Fabio Priano, Botschafter für Pädagogik

Der Unterricht startet wieder

Die Covid-19 Pandemie stellt uns als Schule vor große Herausforderungen. Seit zwei Wochen dürfen die ersten Schülerinnen und Schüler bei uns wieder am Präsenzunterricht teilnehmen. Insgesamt dürfen aber nicht mehr als 25% der Schülerinnen und Schüler in die Schule kommen. Ausgenommen vom Schulbesuch sind Kinder, die zu einer Risikogruppe jeglicher Art gehören. Für meine Klasse bedeutet dies, dass vier Schüler im Präsenzunterricht sind, vier Schülerinnen und Schüler per Fernunterricht beschult werden und ein Schüler sich in der Notbetreuung befindet. Der Präsenzunterricht unterliegt einem strengen und notwendigen Hygienekonzept und muss deshalb mit massiven Einschränkungen geplant und durchgeführt werden. Besonders die Grundidee des neuen Umgebungskonzeptes „Alle nutzen alles“ kann aktuell nicht umgesetzt werden, da feste Plätze, feste Arbeitsmittel und räumliche Gebundenheit fester Bestandteil des Hygienekonzeptes sind.

Auch die eigene Vorstellung von und der eigene Anspruch an Unterricht werden auf eine besondere Probe gestellt. Vieles ist kaum, gar nicht, reduziert oder eben anders möglich. Dabei wollte und will ich aber nicht von einem Ziel Abstand nehmen: „Kinder im Präsenzunterricht und Kinder im Fernunterricht lernen zur gleichen Zeit gemeinsam.“

Präsenz- trifft Fernunterricht

In diesem ersten kleinen Erfahrungsbericht geht es um die Zeit vom 04.05.2020 bis zum 15.05.2020. Die Schülerinnen und Schüler sind in dieser Zeit an insgesamt fünf Tagen in der Schule. Der Schultag startet um 8 Uhr und endet um 13:30 Uhr. Unterrichtet werden die Schülerinnen und Schüler in den Hauptfächern. In der Gestaltung des Stundenplans ist es möglich, Variationen einzubauen und mitzubestimmen. Weiter wird in der Zeit ein Mittagessen angeboten und es finden organisierte Pausen statt.

Die Aufgabe war es nun, den Unterricht so zu gestalten, dass Präsenz- und Fernunterricht gleichzeitig und insbesondere zusammen stattfinden können. Um das zu ermöglichen soll auf Dinge zurückgegriffen werden, die den Schülerinnen und Schülern bekannt sind, um ihnen größtmögliche Sicherheit und Vertrautheit zu ermöglich. In der Zeit der Schulschließung wurde der Kontakt zu den Schülerinnen und Schüler via Skype gehalten. Aufgrund dessen habe ich mich auch für dieses Videokonferenztool entschieden. Materialien wurden via Dropbox und Mail ausgetauscht. Auch das wird zunächst so genutzt, um auch den Eltern Sicherheit zu geben.

Technische Ausstattung der Schülerinnen und Schüler Zuhause

Die vier Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht verfügen häuslich über unterschiedliche technische Voraussetzungen. Ein Schüler arbeitet mit einem Surface mit einem relativ kleinen Bildschirm, ein anderer hat einen Laptop zur Verfügung, eine Schülerin hat einen Rechner mit großem Bildschirm und der vierte Schüler hat ein Android Tablet. Schnell wurde klar, dass diese unterschiedlichen Voraussetzungen für ein gemeinsames Lernen sehr ungünstig sind. Auch wurde schnell klar, dass die Schülerinnen und Schüler technische Standards brauchen, damit sie von Zuhause mitarbeiten können. Aufgrund dessen habe ich Hardware aus dem Freundeskreis, der eigenen Sammlung und aus dem Fundus der Schule zusammengesucht und die Schülerinnen und Schüler Zuhause besucht und zusätzlich ausgestattet. Besonders der Schüler mit dem Android Tablet wurde umfassend ausgestattet. Er hat einen Laptop, einen zusätzlichen großen Monitor und Eingabegeräte bekommen. Auch die anderen Schülerinnen und Schüler haben alle einen zweiten Monitor und ggf. Eingabegeräte und Headsets bekommen. Mir war es besonders wichtig, dass alle Schülerinnen und Schüler zwei Monitore haben. Ein Bildschirm wurde dauerhaft als Skype Monitor verwendet. Den anderen Monitor haben sie für Textverarbeitung, SMART Notebook, für Online Recherche oder für das kollaborative Arbeiten (z.B. mit hellosmart, kahoot, learningapps, etc.) genutzt.

Entscheidend bei der Ausstattung war es, die Standards klar und möglichst reduziert zu formulieren. Das war vor allem der mangelnden Zeit und der mangelnden Hardware geschuldet. Trotzdem mussten sie so angelegt sein, dass sie eine gemeinsame Form von Unterricht ermöglichen und auch meinem Anspruch von Unterricht zumindest in sehr reduzierten Teilen genügen. Dabei war das wichtigste Kriterium: Die Schülerinnen und Schüler brauchen zwei Bildschirme.

Technische Ausstattung des Raumes

Die technische Ausstattung soll an dieser Stelle nur kurz zusammengefasst werden, da sie in Teil I bereits ausführlich beschrieben ist.

  • WLAN Router
  • Sechs LAN Anschlüsse
  • Drei iPads Ein Surface
  • Drei Multimedia PCs
  • Zwei SMART Boards MX368 Flatpanel mit IQ 86“
  • Eine Webcam, angeschlossen an Board 2

Aufgrund der Hygienebestimmung für die Schülerinnen und Schüler im Präsenzunterricht hat jede Schülerin und jeder Schüler ein ihm zugewiesenes mobiles Endgerät. Die SMART Boards durften nicht von den Schülern genutzt werden. Für die Vernetzung von Präsenz- und Fernunterricht ist besonders spannend, dass sich die SMART Boards gegenüber liegen. So haben die Schülerinnen und Schüler neben der Möglichkeit, den Bildschirm des SMART Board auf dem eigenen Monitor zu sehen auch die Möglichkeit über Skype auf das andere Board zu schauen. Deshalb wurde Board 2 nur als Skype- und Kommunikationsboard und Board 1 als „Unterrichtsboard“ genutzt. Um das zu veranschaulichen habe ich einen schematischen Grundriss abgebildet.

Bilder aus dem Unterricht

Nach der gemeinsamen Einstiegsphase bearbeiten die Schülerinnen und Schüler ein Arbeitsblatt zum gemeinsamen Thema: Der Würfel als geometrischer Körper.

Zwei Bilder einer gemeinsamen Einstiegsphase. Thema: Der Würfel als geometrischer Körper. Schülerinnen und Schüler im Präsenzunterricht melden sich wie gewohnt mit dem Finger. Die Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht melden sich mit Daumen oder Herz Emoticon.

Bilder aus dem Deutschunterricht. Thema: Moby Dick. Die Schülerinnen und Schüler erlesen sich Kapitel 2 des Buches in Einzelarbeit und auf differenziertem Niveau

Private Skype Session. Eine Schülerin und ein Schüler bearbeiten gemeinsam ihre Matheaufgaben aus dem Differenzierungskurs.

Bilder aus dem Deutschunterricht. Thema: Moby Dick. Die Schülerinnen und Schüler erlesen sich Kapitel 2 des Buches auf differenziertem Niveau. Die Schüler suchen sich ihre Arbeitsplätze selbstständig in den Umgebungen.

Die Schülerinnen und Schüler aus dem Fernunterricht halten auch in Arbeitsphasen den Kontakt zur Klasse. Mikros sind auf stumm geschaltet. Sie signalisieren durch „melden“, wenn sie Fragen haben. Sie können sich auch untereinander austauschen.

Unterricht – was war geplant?

In den fünf verkürzten Unterrichtstagen haben wir schwerpunktmäßig Mathe- und Deutschunterricht gemacht. Zudem haben wir zwei Stunden Naturkunde durchgeführt und zwei Stunden Kniffel gespielt.

In Mathe wurde der Unterricht als Wochenplanarbeit durchgeführt, in Deutsch als Lektürearbeit. Naturkunde wurde als kooperatives Lernen angelegt und Kniffel als gemeinsames schülerzentriertes Angebot, das jedoch sehr dem Frontalunterricht gleichkam.

Kniffel: Die Idee dahinter war, die Schülerinnen und Schüler spielerisch an diese neue Form von Unterricht heranzuführen. Zudem sollten die Kinder im Fernunterricht so mit notwendigen methodischen und medialen Kompetenzen vertraut gemacht werden (z.B. Bildschirm teilen, Mikro aus, zwei Bildschirm-Arbeit)

Naturkunde: Angesichts der Aktualität wurde an dieser Stelle das Thema Infektionsschutz gewählt. In diesem Unterricht wurden die Schülerinnen und Schüler das erste Mal damit vertraut gemacht, dass sie die SMART Notebook Präsentation auch auf ihren Bildschirmen sehen können. Dazu mussten sie sich auf hellosmart.com anmelden. Weiter war ein Schwerpunkt dieses Unterrichts, dass je zwei Schülerinnen und Schüler aus dem Präsenzunterricht und je zwei Schülerinnen und Schüler aus dem Fernunterricht eine Gruppe gebildet haben. Wir hatten also zwei Gruppe a vier Schülerinnen und Schüler, bestehend aus zwei Präsenzschülern und zwei Fernunterrichtskindern.

Deutsch: In diesem Fach habe ich mich dazu entschieden, mit den Schülerinnen und Schülern ein Buch zu lesen, „Moby Dick“. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten sich in diesem Unterricht den Inhalt des Kapitels selbstständig. Dabei haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, sich den Inhalt gemäß ihres Leseniveaus zu erarbeiten. Anschließend sprechen wir über den Inhalt. Danach bearbeiten die Schülerinnen und Schüler ihre Aufgaben wieder selbstständig in Einzel- oder Partnerarbeit.

Mathematik: Hier habe ich auf ein sehr etabliertes Instrument zurückgegriffen. Die Schülerinnen und Schüler haben einen Wochenplan bekommen, den sie nach und nach abgearbeitet haben. Dieses Instrument erzeugt bei uns eine sehr hohe Schüleraktivität und eine sehr effiziente Lernzeit.

Hier zwei Beispiele eines Wochenplans:

Ein Wochenplan eines Schülers aus dem Fernunterricht. Über das kollaborative Lernen soll auch hier Partnerarbeit stattfinden. Weniger Berücksichtigung können förderschwerpunktspezifische Grundelemente wie „Bewegtes Lernen“ finden.

Ein Wochenplan eines Schülers aus dem Präsenzunterricht. Verschiedene Ausgangslagen und auch förderschwerpunktspezifische Elemente wie das Bewegte Lernen mit dem Hoverboardkönnen eingeplant werden.

Unterricht – wie fällt meine Reflexion aus?

An dieser Stelle möchte ich meine Einzelreflexionen zu den einzelnen Fächern allgemein zusammen. Ich werde an dieser Stelle ehrlich reflektieren. Prinzipiell kann ich eine sehr schöne Reflexion für mich verbuchen. Wichtig ist dabei zu betonen, dass es einen positiven Prozess gab. Tag 5 verlief bereits ganz anders als Tag 1.

Aber eins kann ich festhalten: In diesem Unterricht ist Zeitplanung relativ und völlig unwichtig. Ich habe für mich verstanden, dass diese Organisationsform des Unterrichts aus vielen Gründen dafür sorgt, dass Unterricht entschleunigt wird. Besonders die ersten Unterrichtstage sind allesamt mit technischen Problemen gestartet. Entweder ging das Mikrofon bei einem Schüler nicht, dann konnte ein anderer uns nicht hören oder jemand konnte sich nicht mit dem SMART Board verbinden, usw. Aber wir konnten immer alle technischen Probleme irgendwie lösen und die Schülerinnen und Schüler haben dadurch enorm an Kompetenzen gewonnen. Etwas problematisch war es, wenn die Probleme im Unterricht wieder aufgetaucht sind. Das hat schon zu Verzögerungen und Wartzeiten für die anderen Schülerinnen und Schüler gesorgt und leichte Unruhe mit sich gebracht. Das Thema der Technik wurde aber zunehmend weniger. Da sind wir gemeinsam hinein gewachsen und die Schülerinnen und Schüler sind enorm solidarisch und verständnisvoll miteinander umgegangen. Wichtig ist hierbei die eigene Frustrationstolerenz präventiv zu erweitern.

Besonders herausfordernd für die Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht war die Selbstorganisation. In der Schule gibt es feste Strukturen, ausreichend Material und helfende Hände des Klassenteams. Dieses gibt es im Homeschooling nicht. Auch das war zu Beginn ein enormer Zeitfresser. Ein Schüler braucht diesbezüglich besonders viel Unterstützung. Dabei war es kein Problem, dass alle erforderlichen Unterlagen vorhanden waren. Das haben alle Eltern großartig umgesetzt. Vielmehr ging es um die Organisation des Unterrichts. Schließlich haben wir für uns eine gute Lösung gefunden. Ich habe mich ab Tag 3 mit den Schülerinnen und Schüern aus dem Fernunterricht 15 Minuten vor Beginn des Unterrichts getroffen und genau besprochen welches Material sie wann brauchen. Das hatte einen sehr positiven Effekt. In dem Rahmen konnten wir dann auch mögliche technische Probleme vor dem Unterricht lösen.

Für mich persönlich musste ich verstehen, dass ich deutlich weniger effiziente Lernzeit zur Verfügung habe. Klar habe ich mir das in den Planungen bereits im Vorfeld überlegt, doch es ist nochmal anders, wenn man es dann auch so wahrnimmt und im praktischen Prozess verstehen muss. Diese Entschleunigung hat aber auch positive Effekte mit sich gebracht und wir als Klassenteam haben den Eindruck, dasss es zu einer weiteren Steigerung des Gemeinschaftsgefühls der Klasse beigetragen hat. Wir konnten über die meisten Komplikationen gemeinsam lachen auch wenn ich für mich zugeben muss, dass ich anfangs auch mit Enttäuschungen zu kämpfen hatte. Das war aber allein mein Reflexionsprozess. Anspruch und Wirklichkeit haben besonders in den ersten beiden Tagen nicht zusammengepasst. Das lag vor allem an dem übertriebenen Anspruch an Unterrichtsinhalte. Ich habe schlicht vergessen, was die Schülerinnen und Schüler erst alles können und lernen müssen, damit ich diese Form von Unterricht und dieses Pensum auch mit ihnen umsetzen kann. An Tag 4 und 5 hatten wir schon ein ganz anderes Pensum als an Tag 1 und 2, wodurch Anspruch und Wirklichkeit näher zueinander kamen. Aber es ist auch klar: Ich brauche für diese Form des Unterrichts einen anderen Anspruch, keinen reduzierten, einen anderen.

Besonders herausfordernd und erschöpfend für mich war der eigenen Redeanteil. Dieser war und ist deutlich erhöht. Nonverbale Impulse funktionieren nicht wie gewohnt, ich muss vieles sprachlich erklären und deutlich mehr moderieren. Auch das ist bereits weniger geworden, aber es bleibt eine Herausforderung und Belastung.

Generell kann ich sagen, dass ich mit diesen fünf spannenden Unterrichtsagen sehr zufrieden bin. Die Schülerinnen und Schüler haben das Projekt engagiert, geduldig und gemeinschaftlich angenommen. Dadurch haben sie uns als Klassenteam großartig unterstützt. Unterschätzt habe ich, wie viel die Schülerinnen und Schüler mitbringen müssen. Doch sie haben diese Kompetenzen schnell und sehr ambitioniert gelernt, so dass wir schnell gemeinsame Erfolgserlebnisse hatten. Diese Form des Unterrichts hatte den Effekt, den ich mir erhofft habe. Wir haben gemeinschaftliches Lernen mit einer Zusammenführung von Präsenz- und Fernunterricht herstellen können. Und dabei hat das gemeinschaftliche Lernen auf viel mehr Ebenen stattgefunden als ich es geplant hatte, da ich bei der Planung schwerpunktmäßig den inhaltlichen und nicht gleichwertig auch den sozialen und lebensweltlichen Bereich im Blick hatte.

Wie geht es weiter

Aktuell haben wir eine Woche Maiferien. Dann ändert sich die Situation. Es kommen alle meine Schülerinnen und Schüler alternierend wieder in die Schule. Die aktuelle Präsenzunterrichtsgruppe kommt weiterhin Montag / Mittwoch, die Fernunterrichtsgruppe kommt dann Dienstag / Donnerstag. Im 14-tägigen Rhythmus kommen die Gruppen dann auch am Freitag. Ich stehe jetzt vor der Frage: Organisiere ich meinen Unterricht weiterhin so? Das bedeutet, dass die jetzige Gruppe aus dem Präsenzunterricht das lernen muss, dass die andere Gruppe schon gelernt hat, da sie dann Dienstag und Donnerstag im Fernunterricht wären. Oder entscheide ich mich für einen ganz anderen Weg und eine neue Form, die aber das aufgreift, was wir jetzt zwei Wochen mit Erfolg praktiziert haben.

Corona ist ein dynamischer Prozess und derzeit muss man sich mit den ständig wechselnden Herausforderungen auseinandersetzen. Dabei muss ich aber abwägen, was ich leisten kann, was mein Klassenteam leisten kann und was schließlich die Schülerinnen und Schüler leisten können. Jetzt habe ich eine Woche Zeit mir Gedanken zu machen. Es wird uns etwas einfallen.

Fabio Priano
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